Dienstag, 31. Mai 2022

Mit dem blauen Vogel in die Radikalisierung: begünstigt Twitter die Bildung von Filterblasen?


Vorweg: bei diesem Post handelt es sich wieder um einen Essay, den ich für die Uni geschrieben habe. Das kann man ein bisschen faul finden, aber mein Dozent fand ihn "ansprechend und differenziert dargestellt", deswegen möchte ich ihn euch nicht vorenthalten. Tatsächlich habe ich sogar das Feedback meines Dozenten eingebaut, ihr lest hier also eine bessere Version, die weniger nach Schulaufsatz klingt. Viel Spaß mit meinem Essay aus dem Seminar zu Medienkompetenz für Sozialwissenschaftler, bei dem ihr lernt, dass es sich nicht lohnt, einen Twitter-Account zu erstellen.
Hier hat der neue Chef ausnahmsweise etwas durchdachtes getweetet.

Um den Twitter-Algorithmus zu veranschaulichen, muss man selbst nicht bei der Plattform angemeldet sein. Es genügt einen Tweet zu öffnen und zu den von der Plattform empfohlenen Tweets zu scrollen. Dort werden ähnliche Inhalte, zumeist von ähnlichen Usern, angezeigt. Dabei kann es sich um weitere Memes, Tiervideos oder Meinungen zum Eurovision Song Contest handeln. Oder aber um weitere politische Tweets, häufig mit einer ähnlichen Meinung, wie der des ursprünglichen Tweets. Twitter zeigt den Benutzer*innen hier ähnliches. In diesem Essay wird die Frage beantwortet, ob und wie Twitter für die Bildung von Filterblasen prädestiniert ist. Dabei soll nicht nur auf die Algorithmen von Twitter eingegangen werden, sondern auch auf weitere Funktionsweisen der Plattform.

Zunächst zum  Begriff der „Filterblase“. Dieser wird im öffentlichen Diskurs zwar oft verwendet, seine genaue Bedeutung ist jedoch nicht immer bekannt. Eli Pariser prägte den Begriff Filterblase 2011. Darunter versteht der US-Amerikaner einen, von Internetplattformen durch personalisierte Filter beeinflussten, selektiven Konsum digitaler Medien (Vgl. Pariser, 2012, 62-63). Drei Merkmale unterscheiden die Filterblase im Internet demnach von einem selbst gesteuerten Konsum von Medieninhalten. Zunächst ist die Filterblase dank Algorithmen individuell auf die User ausgerichtet. Durch die Singularität unserer eigenen Filterblase – kein anderer User sollte ein absolut identisches Profil für die Algorithmen haben – sieht Pariser die Gefahr einer Entfremdung zwischen den Menschen, welche zunehmend unterschiedliche Inhalte konsumieren. Zudem sind Filterblasen intransparent und unsichtbar. Das von den Internetplattformen erstellte Profil eines Users wird diesem nie gezeigt oder erklärt. Folglich arbeiten die Plattformen und ihre Algorithmen nur mit Annahmen über die Nutzer*innen.  Die letzte Dynamik der Filterblasen ist der Eintritt in diese: dieser geschieht unfreiwillig mit dem Nutzen der Plattformen und ist nicht zu widerrufen, da die Plattformen von den Filterblasen profitieren (Vgl. Pariser, 2012, 63). Pariser befürchtet, dass die personalisierten Inhaltsanpassungen, welche Onlinedienste über Algorithmen erstellen, zu einer repetitiven „Ich-Schleife“ führen, in welcher Nutzer*innen nur gezeigt wird, was diese vermeintlich sehen wollen – basierend auf dem, was sie bereits online gesehen haben. Überraschende Ausbrüche aus einer Filterblase, wie sie in der analogen Welt passieren, sind dabei nicht vorgesehen (Vgl. Pariser, 2011, 135).

Die Filterblase passt sich also den eigenen Gewohnheiten an. Besonders auf politische Inhalte bezogen kann diese Ich-Schleife in der Filterblase zu einer Radikalisierung führen. Sie ermöglicht ein Ausblenden der politischen Gegenseiten, oder differenzierteren Berichten und Ansichten, während die eigenen Ansichten kontinuierlich durch konforme Inhalte untermauert werden.

Twitter, aber auch die anderen großen Social-Media-Plattformen, bieten die Möglichkeit der politischen Ich-Schleife, die lediglich die eigenen Ansichten bestätigt und Widersprüche ignoriert oder ihnen die Legitimität abspricht (Vgl. Potter, 2020, 9). Viele Politiker*innen und Aktivist*innen versuchen bewusst die Algorithmen der Plattform zu nutzen, um Aufmerksamkeit auf ihre Themen zu lenken, besonders mithilfe von Hashtags, über welche wiederum auf anderen Medien berichtet und diskutiert wird. Dabei benutzen nicht alle Aktivist*innen und Politiker*innen auf Twitter die Plattform zur Radikalisierung, es handelt sich dabei um eine auffällige, laute Minderheit.

Über Twitter wird Agenda-Setting betrieben, diese Aktivität erstreckt sich auf eine Vielfalt von Akteuren. Über Hashtags werden Trends gesetzt, durch Berichterstattung in anderen Medien, etwa dem linearen Fernsehen oder Radio, kommen diese Trends in der analogen Welt an. Exemplarisch hierfür steht etwa die Black Lives Matter-Bewegung, die 2013 mit dem Hashtag #BlackLivesMatter begann und sich stark über Twitter vernetzte und organisierte (Vgl. Potter, 2020, 246). 2008 nutzte das Wahlkampfteam von Barack Obama geschickt Facebook und Twitter und offenbarte damit, wie Wahlkämpfe in den kommenden Jahren geführt werden würden. Eine Spielart davon führte Donald Trump ab 2015 über Twitter zu einem Höhepunkt. In täglichen Schüben twitterte Trump gegen das politische Establishment der amerikanischen Parteien, gegen die Presse oder seine politische Konkurrenz und lobte sich parallel dazu in den Himmel. Stets begleitet von seinem Hashtag #MAGA, unter welchem sich seine Anhänger*innen vernetzten und organisierten. Viele dieser Trump-Anhänger*innen gerieten in eine Filterblase, in welcher Trumps Tweets die Grundlage bildeten. Die Politikwissenschaftlerin Claire Bond Potter bezeichnet diesen Teil der Anhängerschaft als „Political Junkies“, die auf Twitter ihre regelmäßige Dosis Trump erhielten – ungefiltert durch traditionelle Gatekeeper wie Nachrichtenredaktionen (Vgl. Potter, 2020, 269). Unterstützt wurden sie dabei von großen Mengen an Social-Bots und realen Trollen, die auf Twitter sehr aktiv sind und darauf abzielen, den Diskurs zu stören oder zu verfälschen (Vgl. Lobe, 2020, 270-271). Die Netzwerke von Trump-Unterstützer*innen dienen auch der sogenannten „Neuen Rechten“ als Plattform der Rekrutierung neuer Mitglieder, Twitter ist in die Social-Media-Strategie der rechten Aktivist*innen eingebunden: sie verstehen und nutzen die Funktionsweise der Plattform und ihrer Empfehlungsalgorithmen genauestens, um User so durch eine kontinuierliche Normalisierung extremistischer Inhalte, auf Gefühlen statt auf Fakten basierend, an ihre Bewegung heranzuführen (Vgl. Stegemann/ Musyal, 2020, 243).

 

Warum lässt sich Twitter für die Radikalisierung in Filterblasen nutzen? Hebt sich die Plattform dabei von den anderen großen sozialen Medien ab? Der bereits in seiner Funktion beschriebene Algorithmus ist zweifellos der Hauptgrund für die Entstehung von Filterblasen auf Twitter. Intransparent und detailgenau individualisiert zeigt er den Nutzer*innen nur, was diese, laut dem Algorithmus, sehen möchten. Es entsteht eine Schleife, in der aus dem vorher Gesehenen das zukünftig Gesehene abgeleitet wird. Zwar wissen viele Konsument*innen Sozialer Medien, dass sie von Filtermechanismen beeinflusst werden, die genauen Auswirkungen und Funktionen sind ihnen zumeist jedoch nicht bekannt (Vgl. Ovens, 2017, 17). Des Weiteren kostet es viele Benutzer*innen Überwindung, Filterblasen bewusst zu durchbrechen. Sie befürchten dabei zumeist einen Gesichtsverlust gegenüber den anderen Akteuren der Filterblase oder möchten nicht mit Inhalten in Berührung kommen, welche die eigene Ansicht nicht widerspiegeln (Vgl. Ebd., 17). Social-Media-Plattformen selbst haben Hemmungen die entmündigenden Filterblasen zumindest aufzuweichen, da die Erschaffung von Filterblasen um die User Teil des eigenen Geschäftsmodells sind.

Da sich Twitter über Werbeeinahmen finanziert, ist das Unternehmen daran interessiert, User möglichst lange auf der Website oder App zu halten. Je länger Tweets gelesen werden und je länger man mit anderen Usern interagiert, desto mehr Werbeanzeigen kann Twitter den Usern anzeigen. Dementsprechend groß sind die Hemmungen der Plattform, etwas gegen Filterblasen zu tun, selbst wenn sich dort Menschen radikalisieren. Gegenmaßnahmen könnten dazu führen, dass Nutzer*innen weniger Zeit auf Twitter verbringen, da sich die Plattform weniger wie eine Komfortzone anfühlt. Stattdessen wurden Features eingeführt, die Filterblasen und die Kontrolle der Algorithmen verstärken. Die Möglichkeit der Timelinesortierung nach den „besten Tweets“ wurde 2019 eingeführt, es ist möglich zwischen dieser und der klassischen chronologischen Sortierung auszuwählen. Diese Funktion zielt darauf ab, die durchschnittliche Zeit, die User auf Twitter verbringen, zu erhöhen. Der Algorithmus empfiehlt etwa Tweets, die von gefolgten Profilen gelikt wurden, gleichzeitig werden vermeintlich irrelevantere Tweets mit wenig Likes und Retweets in die unteren Teile der Timeline verlegt. Beim Scrollen sollen immer wieder Highlights und Entdeckungen einfließen. Die Filterblase kann so noch komfortabler gestaltet werden, denn Lückenfüller sind weiter zurückgedrängt, stattdessen gibt es noch mehr Inhalte, die einem gefallen könnten, zu entdecken. Je länger man durch die eigene Timeline scrollt, desto mehr Werbeanzeigen kann Twitter im Feed platzieren. Dies ist der Grund, warum Social-Media-Plattformen Filterblasen nur ungern durchbrechen: sie verdienen damit viel Geld. Besonders Twitter ist, als kleines Netzwerk unter den Social-Media-Giganten und einem vergleichsweise wenig profitablen Geschäftsmodell, auf die Werbeeinnahmen angewiesen. Dies könnte einer der heimlichen Hauptgründe sein, warum der Twitter-Account von Donald Trump erst im Januar 2021 gesperrt wurde, obwohl dort jahrelang Falschnachrichten und Hetze verbreitet wurden, die bei kleinen Accounts zu Sanktionen geführt hätten: die Twitter Aktivitäten des US-Präsidenten brachten der Plattform Aufmerksamkeit und neue Nutzer*innen, die dem Präsidenten auf seinem Lieblingsmedium folgen wollten. 


 

Im Vergeich zu facebook/ Meta verdient Twitter Peanuts. Die Umsätze von Janphetamin würden den Rahmen dieser Grafik sprengen, so unterhaltsam dieser Vergleich auch wäre.

Das Grundprinzip von Twitter funktioniert ebenfalls dank Filterblasen und verschafft den Usern die Befriedigung, die sie immer wieder zum Netzwerk zurückkehren lässt – wodurch sie mit Werbung in Berührung kommen und so Twitter finanzieren. Das Zentrum von Twitter bilden Tweets und Retweets, verbunden mit dem Liken von Tweets. Wenn andere Benutzer*innen die eigenen Tweets liken und retweeten schafft dies Gratifikation (Vgl. Burgess/ Baym, 2020, 106). Die eigenen Likes und Retweets sind zudem einsehbar. Für das Interagieren mit der Plattform wird man also von dieser belohnt, in Form von Likes, Retweets und Followern. Zugleich lernt der Algorithmus mehr über die User, indem analysiert wird, was diese liken und retweeten. Durch Interaktionen auf der Plattform wird die Filterblase also perfektioniert.

Das Grundprinzip des Microbloggings, welches Twitter auszeichnet, erschwert die Differenzierung, denn dafür ist innerhalb von (mittlerweile) 280 Zeichen oftmals nicht genügend Platz. Twitter ist im deutschen Raum für seinen rauen Umgangston bekannt. Es wäre zu einfach, dies auf die Limitierungen von Tweets zu schieben. Ein gewisser Einfluss des Zeichenlimits auf den Diskurs ist allerdings möglich.

 

Ist Twitter also prädestiniert für die Bildung von Filterblasen? Wie Eli Pariser bereits feststellte, befindet man sich in einer Filterblase, sobald ein Twitteraccount erstellt wird – die Algorithmen der Plattform lassen sich nicht deaktivieren. Für die eigenen Daten und die Möglichkeit, einem mehr und optimiertere Werbung zu zeigen, belohnt Twitter die User mit einer stetig verbesserten Filterblase, in der vermeintlich ungewünschte Inhalte immer konsequenter ausgeblendet werden. Dabei führt nicht jede Filterblase in eine politische Radikalisierung, dass Potenzial dafür ist aber gegeben. Das Phänomen der politischen Radikalisierung im Internet ist komplexer zu begründen als mit dem Algorithmus auf einer Plattform. Dieser Algorithmus kann dazu aber einen starken Beitrag leisten.

Was kann getan werden, um die Filterblasen auf Twitter zumindest aufzuweichen? Zunächst müsste Twitter Regelverstöße auf der Plattform, wie etwa Aufrufe zur Gewalt, konsequent ahnden und sanktionieren. Außerdem sollten Social-Bots, die darauf ausgerichtet sind, den Diskurs auf der Plattform zu verzerren, schneller identifiziert und entfernt werden. Dies könnte die gefährlichsten Auswirkungen der Twitter-Filterblase zumindest abmildern. Zur Abmilderung der Filterblase besitzt auch die Politik einige Mittel, Regulationen für die großen Plattformen, die zum Beispiel Hassrede begrenzen sollen, haben Auswirkungen auf die Netzwerke (Vgl. Andres/ Slivko, 2021, 24-25). Solche Gesetzesvorgaben sind aber kompliziert und bergen das Risiko, die Redefreiheit einzuschränken. Sie sollten daher gut durchdacht und professionell umgesetzt werden. Ein weiterer Ansatz ist sogenannte „Diverse Exposure“, welche bisher durch Browsererweiterungen gewährleistet werden kann. Beispielsweise werden den Nutzer*innen dabei unter Tweets von Nachrichtenportalen Tweets zum gleichen Thema von anderen Nachrichtenportalen (mit anderer politischer Schlagseite) angezeigt (Vgl. Oolkalar et al., 2019, 20).

Zumindest auf individueller Ebene kann man versuchen sich dem Sog der Filterblase zu widersetzen. Es hilft, die eigene Nutzung der Plattform zu regulieren  und die diskursive Bedeutung der Plattform, zumindest für Deutschland, nicht zu überschätzen, ohne gleichzeitig das gefährliche Potenzial der Plattform zu verleugnen.

 

Zwar berichten Medien gerne über das Geschehen auf Twitter, in Deutschland ist dort aber eigentlich wenig los.

 

 

 

Literaturverzeichnis

 

Andres, Raphaela/ Slivko, Olga (2021): Combating Online Hate Speech: The Impact of Legislation on Twitter [Discussion Paper], ZEW – Leipniz Centre for European Economic Research.

Burgess, Jean/ Baym, Nancy K. (2020): Twitter – A Biography, New York: NYU Press.

Lobe, Adrian (2020): Die algorithmisch gelenkte Öffentlichkeit, in: Gross, Raphael/ Lyon, Melanie/ Welzer, Harald (Hrsg.): Von Luther zu Twitter – Medien und Öffentlichkeit, Frankfurt a. M.: Fischer, S. 263-278.

Oolkalar, Ruchi/ Reddy, Kolli Vishal/ Gilbert, Eric (2019): Pop: Bursting News Filter Bubbles on Twitter Through Diverse Exposure, in: CSCW ’19: Conference Companion of the 2019 on Computer Supported Cooperative Work and Social Computing, 2019, S. 18-22.

Ovens, Carsten (2017): Filterblasen – Ausgangspunkte einer neuen, fremdverschuldeten Unmündigkeit, in: Kommunikation@gesellschaft, Jg. 18, Beitrag 7, S. 1-25.

Pariser, Eli (2011): The Filter Bubble – What the Internet is Hiding from You, London: Penguin.

Pariser, Eli (2012): Wie wir im Internet entmündigt werden, in: Kemper. Peter/ Mentzer, Alf/  Tillmanns, Julika (Hrsg.): Wirklichkeit 2.0 – Medienkultur im digitalen Zeitalter, Stuttgart: Reclam, S. 58-69.

Potter, Claire Bond (2020): Political Junkies – From Talk Radio to Twitter, How Alternative Media Hooked Us on Politics and Broke Our Democracy, New York: Hachette.

Stegemann, Patrick/ Musyal, Sören (2020): Die Rechte Mobilmachung – Wie Radikale Netzaktivisten die Demokratie angreifen, Berlin: Econ.

Donnerstag, 12. Mai 2022

Zwischen Repräsentativität und Butterbretzelgenuss: abendliches Lernen in Göttingen

Endlich wieder richtig Uni! Seit vier Wochen befindet sich die Georg-August-Universität Göttingen wieder im wahrhaftig normalen Modus. Es ist zwar noch nicht ganz wie 2019 - die Currywurst ist aus der Mensa verschwunden, das Gebäudemanagement im Kulturwissenschaftlichen Zentrum gibt keine Sitzplätze im Foyer frei. Doch solche uniinternen Nichtigkeiten sollen hier nicht von Belang sein. Ich möchte über einen Ausschnitt aus dem Unialltag berichten.

Nach 4 Semestern der digitalen Leere ist das Campusleben mit all seinen Vielfältigkeiten zurück. Tagsüber fließen Kaffee oder diverse Mategetränke, abends das Bier. Die Hörsäle sind voll, die Campusgastronomie mit einem vielseitigen Sortiment am Start, diverse Köstlichkeiten sind dort zu erwerben. Auch das Abendprogramm ist gut gefüllt: unter Woche gibt es eigentlich immer irgendetwas am Campus zu tun, es werden Filme gezeigt, Diskussionsrunden oder Gruppentreffen veranstaltet und Vorträge gehalten. Und genau von so einem Vortrag möchte ich heute berichten, authentisch, wie es Stammleser von Janphetamin gewohnt sind. Der Lehrstuhl für Politische Theorie hatte eingeladen zu einem Vortrag über die Demokratische Dimension der Repräsentation. Ich bin ehrlich, ich wusste nicht was mich erwartet. Aber ich weiß nach mittlerweile 3,5 Jahren des Studiums der Politikwissenschaft nicht so viel über Politik, wie ich gerne behaupten würde (nicht falsch verstehen, das Studium bereue ich trotzdem nicht). Im Feld der Politischen Theorie klaffen bei mir einige Wissenslücken, es ist an der Zeit diese anzugehen. Den Vortrag hielt Prof. Dr. Dr. h. c. Ulrich Preuß, ein Name der mir nichts sagte, aber aufgrund der vielen Abkürzungen vor seinem Namen sicherlich viel zu sagen hat. Ich entschloss mich, meinen Anteil an der Füllung der Hörsaalreihen zu leisten und um 18.15 Uhr im Hörsaal 6 des Zentralen Hörsaalgebäudes - ein brutalistisches Betonmonster, ähnlich der Central Bus Station Tel Avivs - einem schlauen Mann zu lauschen.

Vorher benötigte ich allerdings etwas Stärkung. Es war warm, mein Mittagessen lag fast sechs Stunden zurück, und ich war ausgelaugt von einer Statistikvorlesung, bei welcher ich widerrum nicht so gut aufgepasst habe, wie ich gerne behaupten würde. Ich schlurfte zu einer Kerninstitution der Göttinger Campusgastronomie und erwarb eine mit Butter gefüllte Bretzel im Cafe Central des Studentenwerks. Ich bemerkte, dass deren Preis auf 1,30€ gestiegen war. Das von mir gerne liebevoll "Gummibretzel" genannte Tiefkühlerzeugnis wird in den Cafes des Studiwerks lediglich aufgebacken, schmeckte aber vorzüglich. Dennoch, langsam wird die Inflation persönlich.

Objekt der Begierde: die aufgebackene Gummibretzel gehört zu den kleinen Freuden des Unialltags - besonders wenn die Butter in der warmen Bretzel noch schön cremig ist


Alles in Butter: nur beste Zutaten werden für dieses Teigerzeugnis verwendet

Wobei ich sie besser inszeniere als die Infotablets des Studiwerks

Strategisch beobachte ich (und verspeiste nebenbei meine Bretzel), ob noch Menschen vor mir in den Hörsaal gehen würden. Wäre ich der einzige Zuschauer der nicht mit dem Lehrstuhl assoziiert ist - nun, das hätte ich als etwas unangenehm empfunden. Kalorisch aufgerüstet dank gebuttertem Gebäck betrat ich allerdings kurz vor Beginn den Hörsaal und siehe da - es waren sogar Freunde anwesend! Ich wusste: allein schon deswegen wird dieser Abend schonmal kein Reinfall. Da ich gänzlich ohne Vorwissen in diesen Vortrag ging und mein Wissen zu diesem Thema - ich konnte es ehrlich gesagt nichtmal wirklich präzise benennen und erklären -  begrenzt ist, war mir klar, dass sich mein Kenntnisstand diesbezüglich ohnehin um ein Vielfaches erweitern würde. Ich schlug die Notizseiten in meinem Kalender auf (Benutzt die eigentlich jemand? Ich habe es auch nur getan weil ich meinen Block vergessen hatte) und lud meinen Füller mit einer neuen Patrone - den hatte ich wahrscheinlich seit mehr als einem Jahr nicht benutzt. Es war Zeit für eine richtige Unierfahrung alter Schule, und ich war dementsprechend ausgerüstet.

Alter Schule ist hier wirklich ernst gemeint, in der Laudatio zum Vortrag stellte die Lehrstuhlinhaberin, offiziell Veranstalterin des öffentlichen Vortrags, den Dozenten, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Ulrich Preuß vor. Ein 1968 promovierter 68er, der im Rahmen des Sozialistischen Anwaltskollektivs Anfang der 1970er auch Ulrike Meinhoff vertreten hatte. Doch nicht nur das: dieser Public Intellectual wirkte 1990 im Rahmen des Runden Tisches an einer neuen, wahrhaftig demokratischen Verfassung für die DDR mit! Diese wurde aus allseits bekannten Gründen allerdings niemals implementiert. Von daher ist es wahrscheinlich halb so wild, dass Herr Professor Doktor Preuss den Laptop von damals, inklusive darauf gespeichertem Verfassungsentwurf, verloren hat. 1990 gab es tatsächlich schon Laptops! Im selben Jahr wurde interessanterweise auch die Diddl-Maus erfunden.

Modernste Westimporte ermöglichten 1990 die Formulierung einer neuen Verfassung im tragbaren Format. Der Nachteil: sowas kann man leider auch verlegen...

Nach einigen Minuten kommen wir zum Vortrag an sich - ja, ich lasse mir hier Zeit, aber dieser Post soll eben ein authentischer Erfahrungsbericht sein. Beißt beim Lesen doch einfach mal in eine leckere Butterbretzel, um das Ganze so richtig nachvollziehbar zu gestalten. 

Nun erzählt Professor Preuß, Jahrgang 1939, aber noch ganz fit und mit einer coolen Krawatte ausgestattet, die innerhalb ihres Musters ein Bücherregal abbildet. Der Vortrag Die demokratische Dimension der Repräsentation stellt Schlussendlich auch eine Art Wunschliste des Dozenten an das Demokratieverständnis der Öffentlichkeit da. Ich selbst versuche ihn im Folgenden mit Hilfe meiner Notizen zu rekapitulieren. Ich bitte um Verständnis, ich habe schon im Saal nicht alles verstanden (die Tontechnik hat allerdings tadellos funktioniert). 

Wir beginnen die Erkundung des vagen Themas im 15. Jahrhundert, schon damals wagte sich ein großer Denker an die Frage, wer eigentlich wen repräsentieren kann. Ich werde für diese Schilderungen wirklich nichts googeln und alles anhand meiner Erinnerungen und Notizen aufführen. Herr Preuß konnte sich die demokratische Verfassung der DDR 1990 schließlich auch nicht zusammengoogeln, wenn ich hier schon über seinen Vortrag schreibe, bin ich ihm eine ähnliche Arbeitsweise schuldig. Ich würde meine Gedanken hier allerdings nicht als zitierfähig einstufen. Zurück zum Vortrag: eigentlich ist Repräsentation ein Kampfbegriff. Erinnern wir uns zum Beispiel an die amerikanische Revolution und die Boston Tea Party: "No taxation without representation"; oder an die französische Revolution, in welcher sich der dritte Stand eine Stellung innerhalb des politischen Systems Frankreichs erkämpfte. Aber der Begriff Repräsentation ist vielschichtig: wer bestimmt wer repräsentiert wird? Wer wählt die Repräsentanten aus, welche Stellung hat ein Repräsentant gegenüber dem Volk und welche Kompetenzen hat er? Und überhaupt das Volk: Was genau ist das eigentlich? Verfassungstechnisch entsteht ein Volk durch eine Verfassungsgebung. Aber Halt: wer gibt dem Volk die Verfassung, wenn nicht das Volk? Komplexe Probleme der Politischen Theorie und Rechtsphilosophie stellen sich, zum Glück bin ich durch den Genuss meiner Gummibretzel dazu in der Lage, mich diesen komplexen Fragen zu stellen. 

Ich lerne das Volk als Kollektivsubjekt zu verstehen, ein schönes Wort wie ich finde. Dann packt Herr Preuß ein heißes Eisen an: Carl Schmitt. Carl Schmitt? Aber der Mann war doch Nazi, Topjurist im Dritten Reich! Ich habe ehrlich gesagt zu wenig Ahnung von dieser Materie und passe bei diesem Part des Vortrags nicht genügend auf. Doch dank eiserner Willenskraft gelingt es mir, mich aus dem Griff meines Smartphones zu befreien. Jetzt reden wir auch schon über einen cooleren Rechtswissenschaftler: Gerhard Leibholz, selbst eine Persönlichkeit der Universität Göttingen, jüdischer Nazigegner und Bundesverfassungsrichter der ersten Generation. Leipholz vertrat die Meinung, dass über unserer liberalen Demokratie der Parteienstaat liegt, der die Bevölkerung repräsentieren soll. Spätestens hier kratzen sich die Leute, die wirklich Ahnung von der Materie haben, die Augen aus. Aber ich habe bereits angemerkt: ich schreibe es auf, wie ich es verstanden habe. Der offene Wikipedia-Tab dient nur der Absicherung der richtigen Schreibweise für die Personen, versprochen. Zurück zur Repräsentation: diese ist wichtig um die Einheit des Volkes darzustellen. Anhand der Informationen, die ich meinen Notizen (nicht) entnehmen kann, merke ich, dass ich hier mit dem Mitschreiben wohl nicht hinterherkam. Deswegen wechseln wir direkt zum nächsten Juristen: Martin Draht, eher dem linkeren Spektrum zuzuordnen und deswegen in der Justiz der jungen Bundesrepublik teilweise ausgegrenzt oder diffamiert. Laut Professor Preuß empfand Draht eine möglichst geringe Hierarchie zwischen den Repräsentanten und den Repräsentierten als wichtig. Beide sollten sich als gleichberechtig verstehen und einander respektieren. Dabei müssen Repräsentanten und Repräsentierte einander nicht identisch sein: Professor Preuß meint, in einer Demokratie wird eher der Status der Menschen (als wählende, politische Staatsbürger?) repräsentiert, nicht seine Identität. Wer sich noch nicht seine Augen ausgekratzt hat merkt nun: jetzt kommen wir zu aktuellen Debatten. Braucht unsere Demokratie quotierte Wahllisten? Ich möchte gerade nicht unbedingt darüber schreiben, es ist kompliziert und meine Meinung ist diesbezüglich nicht gefestigt. 

Wir kommen nun zum Ende von Professor Preuß' Vortrag. Die genaue Argumentation des Dozierenden ist mir entfallen, doch der betagte Professor teilt gegen den Populismus aus. Dessen spaltende Rhetorik bewirke im Endeffekt das Gegenteil von Repräsentation. Ich setze meinen Füller ab, mir kommen verschiedene Gedanken: erst am Wochenende haben die Schleswig-Holsteiner ihrer Demokratie einen Gefallen getan und die Demagogen der AfD aus dem Parlament gefegt, das finde ich gut, besonders jetzt, wo Herr Preuß den Populismus anspricht. Zumindest den Populismus der AfD können wir nicht gebrauchen, da bin ich mir sicher. Außerdem merke ich, wie wenig ich nach dreieinhalb Jahren des politikwissenschaftlichen Studiums eigentlich weiß. Ich habe jedoch keine Zeit ein eventuell verunsichertes Ego zu beschwichtigen, im Hörsaal wird auf den Tisch geklopft und es kommt zur Fragerunde. Ich schüttele meinen Füller und bereite mich auf weiteren Input vor. 

Die Lehrstuhlinhaberin für Politische Theorie merkt die Aktualität des Themas an: Robert Habeck sagt, er tue das Richtige, gleichzeitig bedrohe seine Politik ja auch die Arbeitsplätze in den ostdeutschen Ölraffinerien. Über Politik nachzudenken bedeutet eben immer auch, über Repräsentation nachzudenken. Solch eine Reflektion lohnt sich, wenn man auch morgen noch in einer Demokratie leben möchte. Inwiefern ist es repräsentativ, politische Entscheidungen zu treffen die einigen Missfallen, ihnen eventuell sogar zunächst schaden? Nun, ich glaube Robert Habeck liest kein Janphetamin, doch mir gefällt der Gedanke, mit ihm bei einer Flasche Flensburger (Plop!) darüber zu reden. 

Doch es wird noch etwas kontroverser, ich lasse meine Notizen für sich sprechen:

Eventuell sollte ich mich für meine Handschrift entschuldigen
Tatsächlich läuft die Debatte zu diesem emotionalen Thema aber sehr sachlich ab. Professor Preuß sieht das ganze nämlich so: in der Demokratie sollten wir nicht nur alle gleichberechtigt sein, sondern auch gleich akzepiert sein. Hier kann man natürlich ein bisschen interpretieren, ich habe nur wiedergegeben was ich niedergeschrieben habe. Ich bin ehrlich, ich glaube dieser Artikel lässt Hirne wachsen. Zumindest meins. 

Innerhalb der Diskussion nähern wir uns dem Ende der Veranstaltung. Mein Blick schweift durch das männlich dominierte Publikum, als ich versuche das Gehörte zu verarbeiten und mich auf die letzten Infos vorbereite. Ich selbst stelle Herrn Preuß keine Frage, dafür bin ich auch im achten Semester nicht schlau genug. Ich bin aber schlau genug zwei wichtige Aussagen von Professor Preuß mitzunehmen. Er merkt an, dass Repräsentation theoretisch auch ohne Demokratie geht, eine Demokratie aber gleichzeitig repräsentativ sein muss. Und er mahnt an, das Demokratie auch dadurch demokratisch ist, dass ihr Grenzen gesetzt sind. Es ist wie mit der Freiheit. Ich weiß nicht mehr was genau ich zum Ende der Veranstaltung denke, ich schätze es ist eine Mischung aus: "Verdammt, es ist schon schön in Deutschland, einer liberalen Demokratie, zu leben" und "Ich möchte an die frische Luft". Zum Schluss wird außerdem nochmal aufs Mehrheitswahlrecht geschimpft, immerhin diesbezüglich habe ich mir nach Jahren des Studiums eine Meinung gebildet: ich finde es ebenfalls scheiße.

Herr Prof. Dr. Dr. h. c. Preuß bekommt für seinen Vortrag noch ein Buch über Göttingen geschenkt, und als ich den Hörsaal verlasse wird mir bewusst, wie großartig das Alles eigentlich ist: ich habe höchstens die Hälfte verstanden, fühle mich aber trotzdem schlauer. Das ist Uni. Das geht nicht online. Zumindest nicht für mich und meine Aufmerksamkeitsspanne, die sich besonders an Bildschirmen drastisch reduziert. Ich bin froh den Abend für diesen Vortrag genutzt zu haben (zugegeben, es ist erst 20 Uhr, aber ich weiß schon dass ich an diesem Abend keine intellektuellen Meisterleistungen mehr vollbringen werde). Aber ich habe meine schönen Notizen, und denke mir: "Hey, mach doch einfach einen Blogbeitrag draus?". Hoffentlich ist es der Start einer neuen Serie von Artikeln hier auf Janphetamin, diesmal möchte ich es wirklich schaffen. Ich bin mir sicher, mit der Inspiration durch richtige Uni und der Kraft der Gummibretzel wird es mir gelingen. Der nächste Post wird bestimmt auch verständlicher. Zu wissen worüber ich dann gerade schreibe könnte dabei hilfreich sein.

Wofür, wenn nicht für einen Blogbeitrag?